Der Reis, den ich letzthin zubereiten wollte, verströmte einen so starken Geruch nach Schädlingsbekämpfungsmittel, dass ich gezwungen war, ihn vor dem Kochen gründlich zu waschen. Als ich die letzten Körnchen aus dem Sieb klaubte, wurde mir bewusst, wie wenig wir in unserem Überfluss auf diese kleinen Reiskörnchen angewiesen sind. Gleichzeitig tauchte aber die Erinnerung auf an den Herbst 2009, als wir zusammen mit einigen anderen Schweizern in einem viel zu grossen Bus durch gespenstisch leere Strassen an Nordkoreas Reisfeldern vorbei fuhren. Die Reiseernte war in vollem Gang, und die ganze Bevölkerung war aufgerufen, einen Teil dazu beizutragen. So hatten wir in der Stadt Kaesong als wir frühmorgens kurz durch das Tor unserer sonst verschlossenen alten Hotelanlage hinaustreten konnten, junge recht elegante Damen im Kostüm mit Gummistiefeln und Sicheln bewehrt stramm durch die Strassen auf die ausserhalb gelegenen Felder marschieren sehen. Die Felder selber zeigten sich in unterschiedlichem Zustand: Auf einigen wurden die Reishalme mit Sicheln geschnitten, auf anderen zu Garben gebunden und zum Trocknen aufgestellt. Einige Felder machten einen ordentlichen Eindruck, andere wirkten eher verwahrlost, die Garben z.T. im Wasser liegend. Überall aber wurden die aufgestellten Garben von Wächtern vor Diebstahl beschützt. Und dann waren da noch die stoppeligen abgeernteten Felder. Einsame Frauen, oft mit auf den Rücken gebundenen Kindern, suchten am Boden mühsam die einzelnen Reiskörner zusammen. Wie gross musste der Nahrungsmittelmangel sein, der diese Frauen zu dieser mühseligen Arbeit zwang!
Und da kam mir meine Kindheit nach dem 2. Weltkrieg in den Sinn. Bei jedem Essen wurden wir ermahnt, nicht mit dem Essen zu spielen, nichts zu vergeuden, den Teller leer zu essen. Immer mit dem Spruch: „Es wäre manches Kind froh, wenn es dies zu essen hätte.“ Allzu stark war in unseren Eltern und Grosseltern die Erinnerung an die Nahrungsmittelknappheit und die Lebensmittelrationierung während des Krieges. Jede Familie bekam für ihre Mitglieder je nach deren Alter eine gewisse Anzahl „Märkli“, ohne die es weder Butter, Zucker, Brot und anderes zu kaufen gab. Brot durfte nur einen Tag nach dem Backen angeboten werden. Alle Gärten und Pärke waren umgepflügt und mit Kartoffeln angebaut worden. Nur wenig Nahrungsmittel fanden den Weg in die Schweiz durch das kriegsversehrte Europa.
Heute leben wir im Überfluss. Für Eltern ist es gar nicht so einfach, ihre Kinder auf das Ausserordentliche unseres Wohlstandes aufmerksam zu machen. Wir haben als Eltern versucht, den Gedanken, dass dies nicht allen Menschen vergönnt ist, an unsere Kinder weiterzugeben, indem wir vor jedem Essen folgendes Gebet sprachen: „Jetz hämmer dTäller wieder gfüllt. Mer törfed wacker ässe. S git sönig wo müend Hunger ha, die wämmer nüd vergässe. O liebe Gott, gib Spys und Trank für alli Lüt uf Erde. Lass die, wo volli Schüssle händ, nüd übermüetig werde.“